Ein Neuer mit Frage zu Amboss

1. August 2021 um 21:38
Hallo,
ich bin neu in der Welt des Schmiedens und wollte mich mal daran versuchen.
Mein Name ist Marc, ich bin 45 und komme aus der Nähe von Göppingen.
Ich bin gelernter Industriemechaniker und Bastle allerhand, mit meiner Drehe und Fräse stelle ich Stirlingmotoren und Flammenfresser her. Nun wollte ich mal versuchen Stahl umzuformen statt zu zerspanen.
Bisher habe ich mir eine Gasesse gebaut und erste Schmiedeversuche auf einem Stahlklotz gemacht, die Esse tut soweit was sie soll
Dann musste noch ein Amboss her, ich hab dann auch gleich zwei gefunden. Einen Peddinghaus mit 30 kg und einen anderen mit 60kg. Zum Peddinghaus findet man ja so alle Informationen im Netz, zu dem mit den 60kg konnte ich bisher aber noch nichts in Erfahrung bringen.
Er hat eine gehärte Oberfläche (Kugelsprungtest) und ich vermute dieser wurde geschmiedet, da er ein Loch quer durch den Fuß hat und eins von unten im Fuß.
Ich hab im Netz viele Bilder von alten Ambossen gesehen, aber da ist nicht dabei mit annähernd dieser Form.
Kann mir jemand etwas zu dem Amboss sagen, Alter, Hersteller, Herkunft? Die Einzige Markierung die ich finden konnte war HL und /222 oder 1222 oder I222, ist das ein Hinweis auf den Hersteller oder wurde das irgendwann später mal ergänzt?
Viele Grüße
Marc
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2. August 2021 um 00:16
Marc,

herzlich willkommen im Schmiedeforum!

Da hast Du einen interessanten Amboss aufgetan! Nach dem Zustand zu urteilen, ist es ein recht altes Gerät. Die Form allerdings muss nicht typisch sein, sondern könnte auch auf einen speziellen Einsatz hindeuten. Auch eine frühere Umarbeitung wäre möglich.

Dass ein Manipulationsloch längs durch den ganzen Fuß geht, ist ebenfalls ganz ungewöhnlich und könnte auf eine Umarbeitung zurückzuführen sein.

Die Angabe 122,2 bezieht sich vermutlich auf das Gewicht und meint dabei 'Pfund'.

Die Bahn ist ordentlich eingeschlagen; auch das kann ein Hinweis auf hohes Alter sein.

Viel Spaß damit!

Freundliche Grüße

Jean  
2. August 2021 um 12:19
Jean,

Danke für deine sehr hilfreiche Antwort, 122,2 macht Sinn, darauf bin ich nicht gekommen. Ist das als Hinweis für einen in England hergestellten Amboss zu deuten?
Das Manipulationsloch (wieder was gelernt) geht nicht kpl. durch, sondern nur von jeder Seite ein Stück, so geschätzt 20mm.
Die Bahn ist an einer Stelle recht ausgeschlagen, ich denke das nachzuarbeiten wäre sehr aufwändig.
Ich hatte auch die Vermutung, dass der nachträglich umgearbeitet wurde, ich konnte aber keinen Hinweis darauf finden, das sieht sehr homogen aus. 

Wie alt würdest du den Amboss schätzen? 

Viele Grüße
Marc
2. August 2021 um 20:39
Servus beinander,

diese Form hab ich noch nie gesehen...irgendwie erinnert die mich an Ameisenbären und das macht ihn absolut einzigartig!!!
An so einem Unikat würd ich niemals dran "rumpfuschen", für mich wäre das Stilbruch obersten Ranges!
Der hat so manches über sich ergehen lassen und sicher gute Dienste geleistet - also dringend lassen wie er ist. Alles andere wäre Frevel.
Meine Schätzung, falls es niemand besser weiß, wäre die vorletzte Jahrhundertwende.

Grüße aus der Holledau
Fred
Unikate müssen nicht zwingend schön sein, nur einzigartig.

Zuletzt bearbeitet: 2. August 2021 um 20:41, Holledauer
3. August 2021 um 08:21
Sehr spannendes Teil, das habe ich auch auf eBay schon beäugt. Würdest Du ihn vielleicht noch einmal detaillierter dokumentieren können? Die Form ist ja bislang wirklich selten.
Mir kam gerade geographisch die Schweiz in den Sinn, einige für uns eher untypische und ähnlich konstruierte Ambossformen werden manchmal mit "Schweizer-Form" angesprochen.
Schön ist auf jeden Fall, dass sich der massive Radius auf der Vorderseite vernünftig nutzen lässt, weil er keine rückwärtigen Füße hat. Du kannst ihn also plan auf den Rücken legen.
Zu den Pfunden noch: Verschiedenste Pfunde wurden auch auf dem europäischen Festland verwendet.

Viele Grüße!
Julian
Zuletzt bearbeitet: 3. August 2021 um 08:25, Julian
3. August 2021 um 11:34
An so einem Unikat würd ich niemals dran "rumpfuschen", für mich wäre das Stilbruch obersten Ranges!


dem schließe ich mich an!

Ein schönes und sehr seltenes Stück! Vom Alter her würde ich auf Mitte 19. Jhdt. tippen.

 

Gruß DerSchlosser

Ein Hoch dem ehrbaren Schmiedehandwerk!
Zuletzt bearbeitet: 3. August 2021 um 11:36, Martin Hartung / DerSchlosser
3. August 2021 um 13:52
Vielen Dank für die vielen hilfreichen Antworten.
Ich werde gerne noch mehr Detailfotos machen und einstellen.

Ich werde den so lassen wie er ist, daher hab ich bisher auch nur den gröbsten Rost entfernt und das Horn und die Bahn abgezogen.
Hab gestern mal erste Schmiedeversuche unternommen, geht trotz der Delle gut.

Das mit dem Ameisenbär ist gut, jetzt muss ich aber immer an die blaue Elise denken wenn ich an den Amboss laufe 

Wenn noch jemand was hat nur raus damit!

Gruß Marc
4. August 2021 um 15:23
Marc,

die Gewichtsangabe in Pfund ist im Festland-Europa nicht ungewöhnlich bei älteren Ambossen. Dabei geht es um das Pfund mit 500 g, nicht um das englische mit 454 g. Meine Schätzung des Alters: vor 1850.

In meinen Augen hat eine Reparatur eines alten Ambosses nichts Verwerfliches an sich, wenn der Amboss in seiner Form unverändert bleibt. Es geht doch lediglich darum, die Funktion wieder vollständig herzustellen.

Wenn das Gerät allerdings nicht mehr benutzt würde und in ein Museum käme, wäre das etwas anderes. 

In diesem konkreten Fall würde bei einer Reparatur die Ambossbahn lediglich 'aufgenagelt'. Dazu wird der Amboss erwärmt, und unter der Delle werden so viele (kalte) Eisennägel seitlich in den Rumpf eingeschlagen, bis sich die Bahn wieder auf ein akzeptables Maß anhebt. Dann kann man nacharbeiten und zum Schluss wieder härten. 

Natürlich muss man genau schauen, ob das alles nötig und machbar ist. Auch die Kosten wären zu beachten. Und schließlich muss man als Erstes schauen, wodurch der Defekt ausgelöst wurde (vor der Therapie kommt immer die Diagnose!). Es ist nicht nur der Gebrauch - sicher hat der Schmied immer nur an derselben Stelle angelegt und gekloppt. Das ist nicht schlau, aber manche machen das so und nennen es 'Gewohnheit'.  

In diesem Fall (und ähnlichen) steht aber auch zu vermuten, dass die Stahlplatte der Bahn hier besonders dünn ist - bei handgemachten Ambossen ist das nicht ungewöhnlich, kommt aber eher am Rundhorn vor. Eine Reparatur wie die oben beschriebene verbessert den Amboss dann nicht, sondern lässt ihn nur besser aussehen. Und schon in 250 Jahren sieht er wieder genauso aus wie jetzt, und dann ärgerst Du Dich! 

Freundliche Grüße

Jean
4. August 2021 um 16:41
Das Pfund zu genau 500gr wurde allerdings erst nach 1850 verwendet. Aber je nachdem, woher das Teil stammt und welche Einheit gerade gängig war (oder veraltet noch genutzt wurde), sind wir ja Richtung 500gr unterwegs. Es kann ja auch sein, dass die Markierungen später hinzugefügt wurden.
Und gerade nochmal geschaut: In der Schweiz hat das Pfund schon ab 1838 500gr!
Zuletzt bearbeitet: 4. August 2021 um 16:41, Julian
4. August 2021 um 18:49
Und schon in 250 Jahren sieht er wieder genauso aus wie jetzt, und dann ärgerst Du Dich! 
In 250 Jahren ärgere ich mich nicht mehr darüber 


Hab nochmal gewogen, der Amboss wiegt exakt 58,6 kg, mit der Angabe 122,2 würde also für ein Pfund = 470 g ergeben.
Nachfolgend ein Auszug aus Wikipedia
Handelsgewicht
Im Mittelalter und der Frühen Neuzeit war das Pfund als Gewichtsmaß in ganz Europa verbreitet, sein Gewicht wich jedoch oft von Stadt zu Stadt ab. Hatte das Pfund in Nürnberg gut 510 Gramm, so waren es in Würzburg 480 Gramm[4] und in Berlin nur etwa 467 Gramm.

Könnte das evtl. auf vor 1850 hinweisen?

Gruß
Marc
Zuletzt bearbeitet: 4. August 2021 um 18:51, Marc Dizdarevic